Stiller Abschied nach vielen Jahren
Rotenburg – Zum 31. Dezember ist Sabine Sievers nach 29 Jahren als Schulpastorin an der Elise-Averdieck-Schule in Rotenburg in den Ruhestand getreten. Corona erlaubt der Theologin keine große Verabschiedung. Was ihr aber bleibt, sind lebendige Erinnerungen an einen schönen Beruf. „An dem Morgen bin ich mit einem Lied im Kopf aufgewacht“, erinnert sich Sabine Sievers an das Ende dieses denkwürdigen Jahres 2020. „Das musste ich erst einmal identifizieren, dürfte doch aus dem Gesangbuch sein“, sagt die pensionierte Schulpastorin. „Und richtig, ich finde es dort: ,Das Jahr geht still zu Ende, nun sei auch still, mein Herz’, heißt es in der ersten Liedzeile.“ Die Theologin gibt zu: „Leonore von Reuß sagte mir eigentlich nichts, ich habe diesen Namen nie abgespeichert. Es ist ja oft so, dass man Worte, Zitate oder Lieder nicht gleich zuordnen kann. Die Dame hat im 19. Jahrhundert gelebt, deshalb auch der etwas romantisch sprachliche Ausdruck. Das Lied ist auf eine noch ältere Melodie des Chorals ,Befiehl du deine Wege’ gesetzt. Das passt inhaltlich und musikalisch besonders ans Ende des Jahres 2020.“
Und tatsächlich zieht Sabine Sievers nachdenklich Bilanz: „In diesem Corona-Jahr war stiller Abschied angesagt, weil es kein Feuerwerk gab und die meisten Menschen allein oder in kleinster Runde das alte Jahr verabschiedet haben.“ Stiller Abschied passt auch zu Sabine Sievers selber. Ihre Pensionierung nach 29 Jahren als Religionslehrerin an der Elise-Averdieck-Schule und Pastorin im Diakonissen-Mutterhaus gerät in eine Zeit, wo Menschen in großer Ansammlung nicht zusammenkommen dürfen. Dafür hätten sie aber im Falle Sievers’ allen Grund. Die 65-Jährige war über Jahre im Vorstand des Mutterhauses, ist Oberin der Diakonissen und mit Leidenschaft Schulpastorin an der Evangelischen Fachschule. „Da kommen über lange Zeit viele Kontakte zustande“, sagt sie, die auch mit dem Diakonieklinikum vernetzt ist. Es leuchtet ein, dass zu so einem Abschied etliche Leute zusammengekommen wären. Wären, muss betont werden, denn Corona macht dem einen Strich durch die Rechnung. Sabine Sievers macht ihren Frieden mit dieser betrüblichen Tatsache und zitiert erneut: „Nun sei auch still, mein Herz.“ Da fällt ihr ein: „Mein dreijähriger Enkel Ansgar telefonierte am 31. Dezember mit mir: Heute musst du noch arbeiten, dann hast du immer frei. So soll es wohl sein.“
Ein Ordner nach dem anderen mit Erinnerungen
Doch vollkommen recht hat der kleine Knirps nicht, schließlich bleibt die pensionierte Pastorin Oberin. „Es ist ein kleiner Stellenanteil. Solange wir noch unsere Diakonissen haben, will ich gern weiter für sie zuständig sein.“ Bleibt die Tür zum Mutterhaus also noch einen Spalt geöffnet. Sabine Sievers räumt gerade in ihrem Arbeitszimmer auf. Sie nennt es ganz pragmatisch „ausmisten“. Was wird nicht mehr gebraucht, kann also weg? Einen Aktenordner nach dem anderen zieht sie aus dem Regal und blättert darin. Längst ist nicht alles bloßes Unterrichtsmaterial, das freilich über viele Jahre etliche Ordner gefüllt hat. Vor allem sind es die religionspädagogischen Projekte, die nicht nur Sievers selber, sondern Generationen von Schülern lebhaft in Erinnerung bleiben werden. „Bis zuletzt sind immer wieder Ehemalige bei unserem alljährlichen Theaterspiel der Adventsfeiern in den Rotenburger Werken zu Besuch gewesen“, erinnert sich die Pädagogin. „Diese Kooperationen mit einem tollen Team in den Werken sind durchaus Sternstunden“, sagt sie. „Seit 2008 haben wir inklusives Musik-Theater mit unseren Auszubildenden und Menschen aus den Werken inszeniert. Das waren wichtige und ganzheitliche Berufserfahrungen für die Jugendlichen.“
Sievers erinnert sich an logistische Herausforderungen, wenn jedes Jahr vor Weihnachten das einwöchige Projekt mit mehr als 60 Akteuren organisiert und anschließend mehrfach vor großem Publikum über die Bühne gehen musste. „Das war für alle Beteiligten anstrengend, aber auch besonders erfahrungsintensiv und sehr weihnachtlich.“ Ein anderer Ordner gerät in Sievers’ Hände, Pilgern steht darauf. „Ein alljährliches Projekt mit unseren Schulklassen, das jedes Jahr im Herbst durchgeführt wurde“, erklärt die frisch Pensionierte. „Unsere Auszubildenden haben sich über drei Tage darauf eingelassen, tagsüber zu wandern, um abends im Heuhotel zu übernachten. Dabei wurde bewusst auf den üblichen Konsum und Handy-Gebrauch verzichtet. Stattdessen machten die jungen Leute wichtige Erfahrungen über eigene Kondition, haben intensiv nachgedacht und Gespräche geführt, haben auch über längere Wegstrecken geschwiegen. Es gab Andachten am Lagerfeuer und Musik. Hinterher waren die meisten Schüler ganz erfüllt von dieser Grenzerfahrung.“
Etliche Ordner tragen die Aufschrift „Gottesdienst“. Das sind Aufzeichnungen von den Sonntagen in der Gemeinde, den Andachten mit Kindern aus den Kindergärten und mit Schülern der Fachschule, Gottesdienste für Menschen an den Wendepunkten ihres Lebens. Sievers hat ausgesprochen gern gearbeitet. „Ich bin ein Team-Player“, sagt sie. „Die Zusammenarbeit mit Kollegen aus den verschiedensten Bezügen war mir wichtig und wird mir fehlen.“ Als Mutter von vier erwachsenen Kindern und Großmutter von vier Enkelkindern ist sie auch Familienmensch. „Wir haben ein großes Haus, in dem wir immer wieder als Familie zusammenkommen. Dafür werde ich jetzt mehr Zeit haben, wenn diese Corona-Pandemie vorüber ist. Unsere Kinder haben das Virus sehr ernst genommen und sind uns aus Verantwortung ferngeblieben.“
Auch in Corona-Zeiten hält die Familie zusammen, nur eben jetzt digital und häufig am Telefon. Dass Kinder und Enkelkinder zum Abschied in den Ruhestand im Januar nicht in Rotenburg sein können, schmerzt schon. „Es ist höhere Gewalt“, sagt die Theologin, und hier schließt sich der Kreis, wenn Sabine Sievers noch einmal die Liedzeile aus dem Gesangbuch zitiert: „Das Jahr geht still zu Ende, nun sei auch still, mein Herz.“ Spricht es aus und blättert weiter in so vielen Aktenordnern vergangener Berufsjahre.
Von Henrik Pröhl
Fotograf: Henrik Pröhl